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Mehr Infos zum Urteil des BGH vom 18.07.2019, 5 StR 649/18


Einsatz von Kurierfahrern als Solo-Selbstständige – Hinterziehung von Sozialabgaben
BGH, Urteil vom 18.07.2019, 5 StR 649/18

Sachverhalt: Können Kurierfahrer als Solo-Selbstständige eingesetzt werden oder führt dies zur Hinterziehung von Sozialabgaben?
Die Angeklagte setzte Solo-Selbstständige als Kurierfahrer ein. Die Staatsanwaltschaft sah diese sechs Kurierfahrer nicht als Solo-Selbstständige, sondern als Arbeitnehmer an. Da diese nicht zur Sozialversicherung angemeldet worden waren, erhob sie Anklage wegen Hinterziehung von Sozialabgaben, § 266a StGB. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Angeklagte war für ein Logistikunternehmen (im Folgenden L) tätig. Sie hatte sich zur Zustellung von Paketen und Katalogen in einem bestimmten Gebiet verpflichtet. Hierzu hatte sie eine Halle angemietet. Dorthin lieferte L täglich bis zu 900 Pakete. Diese mussten noch am selben Tag ausgeliefert werden. Um dieser Pflicht nachzukommen, suchte die Angeklagte über Zeitungsinserate nach selbstständigen Kurierfahrern. Mit diesen schloss sie schriftliche Verträge ab.

Die Verträge sahen vor, dass die Kurierfahrer selbstständig Tätige waren. Sie handelten auf eigenen Namen und eigene Rechnung. Zudem setzten sie ausschließlich eigene Betriebsmittel ein. Auch wurden eigene Räumlichkeiten zum Umschlag der Sendungen verlangt. Die Kurierfahrer sollten keine Arbeitnehmer sein. Für die Durchführung der Aufträge waren sie selbst verantwortlich. Bei Verhinderung sollten sie sich um eine Vertretung kümmern. Kamen sie dem nicht nach, konnte eine Vertretung durch die Angeklagte gestellt werden. Diese konnte eine Aufwandsentschädigung pro angefallener Sendung verlangen. Die Angeklagte vereinbarte mit den selbstständigen Kurierfahrern mündlich eine Vergütung. Hiermit waren sämtliche Aufwendungen der Selbstständigen abgegolten. Zudem hafteten die selbstständigen Kurierfahrer für gänzlichen oder teilweisen Verlust sowie Beschädigungen der Sendungen. Die Selbstständigen waren zudem frei, am Markt weiter tätig zu werden.

Zugleich vereinbarte die Angeklagte mit den selbstständigen Kurierfahrern das Zustellgebiet. Andere Zustellgebiete wurden nicht einseitig zugewiesen.

Der Ablauf der Tätigkeit der Solo-Selbstständigen
Die Angeklagte nahm die von L angelieferten Pakete morgens bis etwa 08:30 Uhr entgegen. Hierfür beschäftigte sie Arbeitnehmer. Diese verteilten die Pakete auf verschiedene Boxen, die den Zustellgebieten der Solo-Selbstständigen entsprachen. Die Solo-Selbstständigen entnahmen eigenständig die Pakete aus den Boxen. Für den Zugang zur Halle hatten sie einen eigenen Schlüssel. Den Zeitpunkt ihrer Tätigkeit konnten sie frei wählen. Für ihre Tätigkeit setzten sie eigene Fahrzeuge ein. Ebenfalls konnten sie die Touren innerhalb ihres Zustellbezirks frei bestimmen. Sie hatten lediglich die vertragliche Verpflichtung, bis spätestens 20:00 Uhr die Pakete auszuliefern. Während der Paketauslieferung trugen sie eine Jacke mit dem Logo des Logistikunternehmens. Ebenso verwendeten sie zur Erfassung und Verwaltung der Lieferungen einen Handscanner von L. Dieser Scanner wurde täglich per Funk in der Lagerhalle der Angeklagten mit dem Computersystem von L synchronisiert.

Im Rahmen ihrer Kurierfahrten wurden die Solo-Selbstständigen von der Angeklagten nicht kontrolliert. Sie erhielten auch keine bestimmten Vorgaben zur konkreten Auslieferung, noch entsprechende Weisungen. Sie erhielten lediglich ein Handbuch von L, das die Gestaltung des Kundenkontakts beinhaltete. Zudem konnten die Selbstständigen die Auslieferung der Pakete an andere delegieren.

Die Vergütung erfolgte nach der Anzahl der ausgelieferten Pakete und Kataloge. Die Vergütung wurde individuell ausgehandelt und vereinbart. Die Rechnungen erstellte die Angeklagte. Die Umsatzsteuer führten die Solo-Selbstständigen an das zuständige Finanzamt ab, ebenfalls die Einkommenssteuer. Sämtliche Solo-Selbstständigen hatten eine Gewerbeanmeldung und sahen sich nicht als Arbeitnehmer. Sie waren bereits früher als Selbstständige tätig.

Landgericht lehnt Hinterziehung von Sozialabgaben ab – Kurierfahrer sind als Selbstständige zu werten und nicht als Arbeitnehmer
Das Landgericht ordnete die Kurierfahrer nicht als Arbeitnehmer ein, sondern als Solo-Selbstständige. Es lehnte somit den Vorwurf der Hinterziehung von Sozialabgaben nach § 266a StGB ab. Eine Eingliederung in den Betrieb der Angeklagten sei nicht erfolgt. Die Solo-Selbstständigen hätten frei wählen können, wann sie die Pakete abholen. Konkrete Anweisungen seien von der Angeklagten nicht erteilt worden. Die Solo-Selbstständigen hätten auch eigene Arbeitnehmer oder Subunternehmer einsetzen können. Sie trugen zudem das Erfolgsrisiko, und die Vergütung erfolgte erfolgsabhängig. Zudem habe die Vergütung teilweise auch erheblich geschwankt. Es sei auch keine Vollzeittätigkeit gewesen, sodass die Solo-Selbstständigen auch Zeit gehabt hätten, andere Aufträge anzunehmen. Zudem seien Vergütung und Zustellgebiet ausgehandelt worden. Eine Zuweisung eines anderen Zustellgebietes durch die Angeklagte habe nicht erfolgen können.
BGH: Kurierfahrer können als Solo-Selbstständige eingesetzt werden, damit scheidet eine Hinterziehung von Sozialabgaben aus

Der BGH sah die Kurierfahrer nicht als Arbeitnehmer, sondern als Solo-Selbstständige an. Nach Ansicht des BGH seien die wesentlichen Kriterien für eine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht erfüllt worden. Arbeitnehmer sind in den Betrieb des Arbeitgebers eingegliedert. Sie unterliegen zudem dessen Weisungsrecht hinsichtlich Zeit, Dauer, Ort und Ausführung der Arbeit. Als Selbstständige werden hingegen Personen angesehen, die ihre Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten und ihre Arbeitszeit frei bestimmen können. Dabei kommt es auf die gelebte Beziehung an. Diese ist einer wertenden Gesamtbetrachtung zu unterziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es Tätigkeiten gibt, die als Arbeitnehmer oder als Selbstständige ausgeübt werden können. Die rechtliche Beurteilung hängt davon ab, ob die Merkmale für eine Selbstständigkeit oder für eine Arbeitnehmerstellung überwiegen.

Der BGH erkennt dabei an, dass auch Selbstständige gesetzlichen Bindungen unterliegen. Für die Abgrenzung zu Arbeitnehmern ist entscheidend, ob sie engeren Bindungen unterliegen. Indiz hierfür und damit für eine Hinterziehung von Sozialabgaben kann eine stärkere Einbindung in die betrieblichen Abläufe sein. Ebenso, wenn rechtlich oder faktisch keine realistische Möglichkeit besteht, anderweitig unternehmerisch tätig zu sein.

Indizien für eine selbstständige Tätigkeit der Kurierfahrer
Als wichtig sah der BGH an, dass die Solo-Selbstständigen, im Gegensatz zu Arbeitnehmern, keine festen Arbeitszeiten hatten. Ihnen wurde lediglich ein Zeitrahmen vorgegeben. Sie hatten zudem keine feste Tour für die Reihenfolge der Auslieferungen. Sie konnten innerhalb des Zustellbezirks frei bestimmen, wie die Auslieferung zu erfolgen hat. Sie hatten zudem ausdrücklich die Möglichkeit, anderweitig unternehmerisch tätig zu sein. Aufgrund der freien Gestaltungsmöglichkeit ihrer Aufträge konnten sie dem auch rein faktisch nachkommen. Teilweise haben dies auch die selbstständigen Kurierfahrer wahrgenommen. Soweit dies aufgrund der Arbeitsbelastung nicht genutzt wurde, lag es an der Größe des übernommenen Zustellbezirks und nicht an den Weisungen der Angeklagten. Auch die Terminvorgabe hinsichtlich der Auslieferung innerhalb eines Tages ist kein Hinweis auf die Tätigkeit von Arbeitnehmern. Eine derartige Abrede über den zeitlichen Rahmen findet vielmehr bei vielen Solo-Selbstständigen statt. Zudem gelten entsprechende Zeitvorgaben auch bei Frachtgeschäften, wonach Frachtführer eine Lieferfrist einzuhalten haben. Auch die Dauerhaftigkeit des Rahmenvertrags ist kein Indiz für eine Stellung als Arbeitnehmer. Sie ergibt sich aus der Notwendigkeit einer Planungssicherheit für den Auftraggeber.

Zudem war die Vergütung erfolgsabhängig ausgestaltet, und die Fahrer stellten mit den Fahrzeugen die wesentlichen Betriebsmittel. Als unternehmerisches Risiko, das typisch für Selbstständige ist, sah der BGH die Erreichbarkeit der Empfänger der Pakete sowie das Verlust- und Beschädigungsrisiko der Pakete. Zudem mussten die selbstständigen Kurierfahrer die Pakete rechtzeitig anliefern. Weiter sprach für die Selbstständigkeit, dass die Fahrer für eine Vertretung zu sorgen hatten und ihre Leistungen durch andere Personen erbringen lassen konnten. In der Praxis hatten dies auch einzelne Fahrer genutzt.

Für eine Arbeitnehmereigenschaft, und damit gegen die Selbstständigkeit, sprach, dass sie Arbeitskleidung von L trugen. Zudem sprach dagegen, dass die Angeklagte Rechnungen der Fahrer erstellte. Außerdem hatten sie keine eigenen Geschäftsräume. Allerdings unterhielten sie bei der Angeklagten auch keinen eigenen Arbeitsplatz und führten Büroarbeiten zuhause aus.

Nicht überzeugen konnte den BGH, dass die selbstständigen Kurierfahrer ihren Arbeitsort nicht frei wählen konnten, sondern im Rahmen eines Zustellgebietes durchführen mussten. Dies ergab sich nach Ansicht des BGH nicht aus einer Verfügungsmacht der Auftraggeberin, sondern aus der Natur des Transportgeschäfts. Wesentlich war, dass sie innerhalb des Zustellgebietes ihre Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten konnten.

Der BGH lehnt aus diesen Gründen den Vorwurf der Hinterziehung von Sozialabgaben ab nach § 266a StGB ab.

Fazit: Kurierfahrer können als Selbstständige anzusehen sein
Der BGH grenzt in seinem Urteil sachgerecht Solo-Selbstständige von Arbeitnehmern ab und verneint eine Hinterziehung von Sozialabgaben. Er führt dies anhand einer Reihe von Indizien durch, die sowohl für die eine als auch für die andere Seite sprechen. Auftraggebern von Solo-Selbstständigen  kann daher nur geraten werden, die Voraussetzungen genau zu überprüfen. Dies ist insofern wichtig, als bereits ein verhältnismäßig kurzer Einsatz von wenigen Selbstständigen – hier waren es sechs Fahrer in drei Jahren – zu immensen Nachforderungen führen kann. Die Sozialversicherung hat hier gegen die Angeklagte ca. 170.000,- € geltend gemacht. Sofern betroffene Auftraggeber hier Unterstützung brauchen, können sie sich gerne an die Kanzlei wenden.

siehe auch unter: https://protag-law.com/einsatz-von-kurierfahrern-als-solo-selbststaendige-hinterziehung-von-sozialabgaben-bgh-urteil-vom-18-07-2019-5-str-649-18/
Kontaktperaon: Sollten Sie Fragen zu diesem oder anderen rechtlichen Themen haben, zögern Sie nicht Kontakt aufzunehmen. Herr Rechtsanwalt Prochaska hilft Ihnen gerne weiter. Sie erreichen ihn per E-Mail (prochaska@protag-law.com) und telefonisch unter 0621 391 80 10 – 0 .
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