231129 Arbeitsvermittlung im Hafen versus Arbeitnehmerüberlassung, BAG Urteil – 9 AZR 476/21

Arbeitsvermittlung im Hafen versus Arbeitnehmerüberlassung, BAG Urteil – 9 AZR 476/21


Sachverhalt: Findet auf eine Arbeitnehmerüberlassung in einem Gesamthafenbetrieb das AÜG Anwendung?


Im vorliegenden Fall streiten die Parteien über das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses durch verdeckte Leiharbeit, auch illegale Arbeitnehmerüberlassung genannt, gem. § 10 I 1 iVm § 9 I AÜG sowie – hilfsweise – über die Wirksamkeit einer Befristung.


Auf der Grundlage des Gesetzes über die Schaffung eines besonderen Arbeitgebers für Hafenarbeiter in der Fassung vom 23.12.2003 ist für Bremen-Bremerhaven ein Gesamthafenbetrieb (GHB) gebildet worden. Dieser wird vom Gesamthafenbetriebsverein im Lande Bremen e. V. (GHBV) geführt. Der Kläger wurde vom GBHV durch schriftlichen Arbeitsvertrag vom 14.12.2006 als Gesamthafenarbeiter eingestellt.


Der Gesamthafenbetrieb im Lande Bremen nimmt dem Mitarbeiter gegenüber insoweit die Funktion eines Arbeitgebers wahr, soweit diese nicht von den Betrieben auszuüben ist. Weder der GHB noch der GHBV verfügen über eine Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis. Bei der Beklagten handelt es sich um einen Hafeneinzelbetrieb im Sinne der Errichtungsvereinbarung, der Verwaltungsordnung und der Satzung des GHBV, bei der der Kläger eingesetzt war.


Der Kläger hat die Auffassung vertreten, zwischen ihm und der Beklagten bestehe nach § 10 I 1 iVm § 9 AÜG spätestens seit dem 1.12.2011 ein Arbeitsverhältnis. Der GHBV betreibe zumindest bei unionsrechtskonformer Auslegung des AÜG Arbeitnehmerüberlassung, ohne die dafür erforderliche behördliche Erlaubnis zu besitzen. Der Kläger behauptet, durchgehend durch den GHBV bei der Bekl. eingesetzt worden zu sein.


Der Kläger beantragte festzustellen, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Vollzeitarbeitsverhältnis besteht, bzw. hilfsweise, dass sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten nicht aufgrund der Befristung des Arbeitsvertrages geendet hat.


Die Beklagte hat ihren Antrag auf Abweisung der Klage unter anderem darauf gestützt, dass das AÜG vorliegend keine Anwendung finde, weil das Gesamthafenbetriebsgesetz jenem als das speziellere Gesetz vorgehe. Der GHBV überlasse auch nicht Arbeitnehmer im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit iSv § 1 I 1 AÜG, weil anderen Personaldienstleistern die Vermittlung und Überlassung von Hafenarbeitern im Bereich des GHB untersagt sei und der GHBV insoweit nicht am Marktgeschehen teilnehme.


Das ArbG hat die Klage abgewiesen. Das LAG hat die dagegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.


Entscheidung des BAG: Arbeitsvermittlung im Gesamthafenbetrieb ist keine Arbeitnehmerüberlassung


Das BAG kam zu dem Ergebnis, dass zwischen den Parteien kein unbefristetes Arbeitsverhältnis kraft gesetzlicher Fiktion gem. § 10 I iVm § 9 I AÜG zustande gekommen ist.


§ 10 I 1 AÜG fingiert das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses unter anderem bei Fehlen einer Erlaubnis des Verleihers zur Arbeitnehmerüberlassung. Nach dieser Vorschrift gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeiter zu dem zwischen dem Entleiher und dem Verleiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeitpunkt als zustande gekommen, wenn der Vertrag zwischen Verleiher und Leiharbeiter nach § 9 I AÜG unwirksam ist. Gemäß § 9 I Nr. 1 AÜG sind Verträge zwischen Verleihern und Entleihern sowie zwischen Verleihern und Leiharbeitern unwirksam, wenn der Verleiher nicht die nach § 1 AÜG erforderliche Erlaubnis hat. § 9 I Nr. 1 b AÜG ordnet die Unwirksamkeit von Arbeitsverträgen zwischen Verleihern und Leiharbeitern für den Fall an, dass die nach § 1 I b AÜG zulässige Höchstüberlassungsdauer überschritten wird.


Keine Anwendung des AÜG auf die Arbeitsvermittlung des Gesamthafenbetriebs


Hierzu stellte das BAG jedoch fest, dass weder der Erlaubnisvorbehalt nach § 1 I 1 AÜG, noch das Rechtsfolgensystem des § 10 I iVm § 9 I Nr. 1, Nr. 1 a und Nr. 1 b AÜG auf die Arbeitnehmerüberlassung von Gesamthafenarbeitern durch den GHB an die Hafeneinzelbetriebe Anwendung findet. Die Vorschriften des Gesamthafenbetriebsgesetzes und die aufgrund dessen erlassenen Vorschriften verdrängen das Erfordernis einer behördlichen Erlaubnis für die Überlassung von Arbeitnehmern sowie die den Bestand des Arbeitsverhältnisses regelnden Bestimmungen in den § 9 I, § 10 I AÜG.


Eine Verdrängung der einen Rechtsnorm durch eine andere besondere Rechtsnorm kann vorliegen, wenn ein Fall von Spezialität (lex specialis derogat legi generali) gegeben ist. Spezialität verlangt, dass die verdrängende Rechtsnorm sämtliche Merkmale der allgemeinen Norm enthält und dieser noch ein besonderes Merkmal zur Bildung seines Tatbestandsbegriffs hinzufügt.


Das Gesamthafenbetriebsgesetz geht dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vor.


Beide Gesetzeswerke stehen als Bundesgesetze im gleichen Rangverhältnis und regeln die Arbeitnehmerüberlassung. Das Gesamthafenbetriebsgesetz regelt jedoch spezifische Rahmenbedingungen für die Errichtung eines GHB. Dieser wird als besonderer Arbeitgeber auf deutschen Seehäfen ausschließlich für dort geleistete Hafenarbeit gebildet. Hierdurch werden die in den Häfen anfallenden Arbeiten bedarfsorientiert verteilten und den Hafenarbeitern dauerhafte Arbeitsverhältnisse ermöglicht.


Unterschiede des AÜG zum Gesamthafenbetriebsgesetz


Das AÜG bestimmt allgemein für das Verhältnis zwischen Verleiher, Entleiher und Leiharbeiter die leiharbeitstypische gespaltene Arbeitgeberstellung. Nach § 1 I 1 AÜG bedürfen Arbeitgeber, die als Verleiher Dritten (Entleihern) Arbeitnehmer (Leiharbeiter) im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zur Arbeitsleistung überlassen (Arbeitnehmerüberlassung) wollen, der Erlaubnis. Arbeitnehmer werden nach der Legaldefinition des § 1 I 2 AÜG zur Arbeitsleistung überlassen, wenn sie in die Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert sind und deren Weisungen unterliegen. Die Überlassung und das Tätigwerden von Arbeitnehmern als Leiharbeiter ist nur zulässig, soweit zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeiter ein Arbeitsverhältnis besteht und die Höchstüberlassungsdauer des § 1 I b AÜG nicht überschritten wird.


Begrenzt auf den Gesamthafen ermöglicht das Gesamthafenbetriebsgesetz demgegenüber unbefristet die Möglichkeit, mit dem GHB einen Arbeitgeber zu schaffen. Hierdurch kann das in den Hafeneinzelbetrieben anfallende, stark schwankende Arbeitsaufkommen bedarfsgerecht verteilt werden. Die Beschäftigung der dort angestellten Hafenarbeiter entspricht zwar im Hinblick auf die Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Hafeneinzelbetrieb derjenigen von Leiharbeitern im Allgemeinen. Der Zweck einer gegenüber dem AÜG speziellen Arbeitgeberfunktion zur Überlassung von Personal, die staatliche Kontrolle und das Sanktionssystem sind jedoch im Gesamthafenbetriebsgesetz, der Errichtungsvereinbarung und der auf dieser Grundlage erlassenen Verwaltungsordnung eigenständig und abweichend geregelt.


Das Gesamthafenbetriebsgesetz verfolgt gegenüber dem AÜG einen eigenständigen Zweck. In § 1 Gesamthafenbetriebsgesetz werden die zuständigen Arbeitgeberverbände bzw. einzelne Arbeitgeber und Gewerkschaften ermächtigt, durch schriftliche Vereinbarung „zur Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse“ einen besonderen Arbeitgeber zu bilden. Als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien soll eine dauerhafte Beschäftigung der Gesamthafenarbeiter sichergestellt werden. Als Arbeitnehmerschutzeinrichtung ist der GHB nach § 1 I 2 Gesamthafenbetriebsgesetz nicht auf eine erwerbswirtschaftliche Tätigkeit gerichtet.


Der GHB wurde durch Errichtungsvereinbarung vom 1.3.1982 gebildet. Das BAG sieht die Errichtungsvereinbarung aufgrund ihres Normcharakters und ihrer zwingenden Wirkung einem Tarifvertrag vergleichbar.


Außerdem verlangt das Gesetz als Ausgleich für die weitreichenden Regelungsbefugnisse eine umfassende, auf die einzelnen Befugnisse des GHB bezogene staatliche Aufsicht. Soweit der GHB gem. § 2 III Gesamthafenbetriebsgesetz nichtgewerbsmäßige Arbeitsvermittlung durchführt, ist er der Aufsicht der Bundesagentur für Arbeit unterstellt und an deren Weisungen gebunden.


Schließlich kam das BAG zu dem Ergebnis, dass die Bestimmungen in den § 9 I, § 10 I AÜG auf die Beschäftigung der Gesamthafenarbeiter keine Anwendung finden. Das Gesamthafenbetriebsgesetz verfolgt gegenüber dem AÜG auch insoweit ein eigenständiges Regelungsziel, dem das Sanktionssystem des AÜG widerspricht.


Das BAG führte außerdem aus, dass die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zwischen Gesamthafenarbeiter und Hafeneinzelbetrieb kraft gesetzlicher Fiktion nach § 10 I 1 AÜG auch nicht durch das Unionsrecht veranlasst ist.


Befristung des Arbeitsvertrages


Die Befristung des Arbeitsvertrages nach § 14 I 1 TzBfG sieht das BAG im vorliegenden Fall als gerechtfertigt. Ein sachlicher Grund dafür ergibt sich als Besonderheit des Gesamthafenbetriebs aus dem mit Schaffung eines besonderen Arbeitgebers intendierten Arbeitnehmerschutz. Das unternehmerische Risiko eines kurzfristig stark schwankenden Personalbedarfs im Gesamthafen wird durch die Befristung der Arbeitsverträge mit den Hafeneinzelbetrieben nicht auf die Hafenarbeiter abgewälzt. Vielmehr wird in deren Interesse an einer stetigen Beschäftigung das Risiko auf den Gesamthafenbetrieb als besonderen Arbeitgeber übertragen. 


Die gesetzlich vorgesehene, stets nur zeitlich begrenzte Beschäftigung in den Hafeneinzelbetrieben ist ein Umstand, der auch der Annahme einer missbräuchlichen Nutzung der Befristungsmöglichkeit nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) entgegensteht.


Außerdem findet das Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG keine Anwendung, wenn der Arbeitsvertrag des Gesamthafenarbeiters die die Befristung regelnde Verwaltungsordnung insgesamt in Bezug nimmt.


Fazit: Arbeitnehmerüberlassung in Gesamthafenbetrieb unterfällt nicht dem AÜG


Das BAG hat im vorliegenden Fall die Anwendung des AÜG für die Arbeitnehmerüberlassung im Hafenbetrieb Bremen ausgeschlossen. Als Begründung führte es aus, dass die Vorschriften des Gesamthafenbetriebsgesetzes und die aufgrund dessen erlassenen Vorschriften das Erfordernis einer Erlaubnis für die Überlassung von Arbeitnehmern sowie die Anwendung der Bestimmungen in den § 9 I, § 10 I AÜG verdrängen. Es liegt ein Fall der Spezialität (lex specialis derogat legi generali) vor, daher finden nur die Bestimmungen des Gesamthafenbetriebsgesetzes Anwendung.


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