230905 Bindungswirkung einer vorläufig widerrufenen Entsendebescheinigung, EuGH C-410/21 u. C-661/21

     

Bindungswirkung einer vorläufig widerrufenen Entsendebescheinigung (A1-Bescheinigung), EuGH C-410/21 u. C-661/21


Sachverhalt: Ist eine vorläufig widerrufene Entsendebescheinigung (A1-Bescheinigung) trotzdem bindend?


Im vorliegenden Fall geht es um eine verbundene Sache von zwei Strafverfahren wegen Hinter-ziehung von Sozialabgaben. Betroffen waren belgische Unternehmen, die im innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verkehr tätig sind.


In der ersten Rechtsache (C-410/21) gründete ein Geschäftsführer einer belgischen Gesellschaft, eine zweite Gesellschaft in der Slowakei. Bei dieser zweiten Gesellschaft wurden Slowaken eingestellt. Die Slowaken wurden nach Belgien zur ersten Gesellschaft entsandt und dort eingesetzt. Für die Mitarbeiter der slowakischen Gesellschaft stellte die zuständige slowakische Behörde Entsendebescheinigungen, sogenannte A1-Bescheinigungen, aus. Zusätzlich verfügte die slowakische Gesellschaft über die von der slowakischen Behörde ausgestellte Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr. Die belgische Sozialaufsichtsbehörde untersuchte die Tätigkeit dieses Geschäftsführers und die Verbindung zwischen den beiden Gesellschaften. Die Untersuchung der Sozialaufsichtsbehörde ergab, dass die meisten Transportdienstleistungen in Belgien stattgefunden hatten. Die slowakische Gesellschaft sei gegründet worden, um im Wege der Entsendung von Arbeitnehmern billige Arbeitskräfte einzusetzen. Auf der Grundlage dieser Überprüfung wurde gegen den Geschäftsführer und die belgische Gesellschaft ein Strafverfahren eingeleitet. Im Lauf dieses Strafverfahrens ersuchte die belgische Sozialaufsichtsbehörde die slowakische ausstellende Behörde darum, die A 1-Bescheinigungen für die betroffenen Arbeitnehmer rückwirkend zu widerrufen. Daraufhin widerrief die slowakische ausstellende Behörde vorläufig die A1-Bescheinigungen. Ein endgültiger Widerruf erfolgte jedoch nicht.


Die zweite Rechtsache (C-661/21) betrifft auch eine Transportgesellschaft mit Sitz in Belgien. Deren Geschäftsführer war außerdem Mitinhaber einer Gesellschaft in Litauen, die über eine von den litauischen Behörden ausgestellte Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr verfügte. Einer Untersuchung der belgischen Sozialaufsichtsbehörde zufolge hatten der Geschäftsführer und die belgische Gesellschaft die litauische Gesellschaft benutzt, um litauische Fahrer in Belgien zu beschäftigen. Diese würden, nachdem sie in Litauen eingestellt worden seien, sofort nach Belgien entsandt, um ihre Arbeitsverträge zu unterzeichnen und vom Betriebsgelände der belgischen Gesellschaft ihre Tätigkeit auszuüben. Gegen den Geschäftsführer und die belgische Gesellschaft wurden Strafverfahren insbesondere wegen der Hinterziehung von Sozialabgaben eingeleitet.


Letztendlich kamen die Verfahren an den belgischen Kassationshof, der die Verfahren aussetzte und sich an den EuGH wandte.


Entscheidung des EuGH: Die vorläufig widerrufenen Entsendebescheinigungen bzw. A1-Bescheinigungen bleiben bindend


Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass eine A 1-Bescheinigung, auch wenn sie durch eine Entscheidung des ausstellenden Trägers vorläufig ausgesetzt wurde, während dieses Zeitraums der vorläufigen Aussetzung nicht ihre Bindungswirkung verliert. Für die Träger und die Gerichte der Mitgliedstaaten ist sie somit weiterhin verbindlich. 


Betrügerisch erlangte Entsendebescheinigungen bzw. A1-Bescheinigungen kann das Gericht außer Acht lassen


Jedoch kann unter solchen Umständen ein Strafgericht des Einsatzstaats das Vorliegen eines Betrugs feststellen. Es kann diese A1-Bescheinigung folglich für die Zwecke dieses Strafverfahrens außer Acht lassen. Allerdings ist das in SArt. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Dialog- und Vermittlungsverfahren eine obligatorische Vorbedingung für die Klärung der Frage, ob die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Betrugs erfüllt sind.


Die ausstellende Behörde hat die Gültigkeit von Entsendebescheinigungen nicht überprüft


Im vorliegenden Fall wurde zwar das Dialog- und Vermittlungsverfahren eingeleitet. Der slowakische Träger, der die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1-Bescheinigungen ausgestellt hat, hat aber unter Missachtung der Anwendungsmodalitäten dieses Verfahrens beschlossen, die Überprüfung der Gültigkeit dieser Bescheinigungen und die Beurteilung des auf die betroffenen Arbeitnehmer anwendbaren Systems der sozialen Sicherheit bis zum Abschluss des Strafverfahrens auszusetzen. 


Unter diesen Umständen hat der ausstellende Träger es unterlassen, die Bescheinigungen, deren betrügerische Erlangung oder Verwendung im Rahmen des oben genannten Strafverfahrens in Frage stand, zu überprüfen.  Er hat zudem nicht innerhalb einer angemessenen Frist zu den vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats hierzu vorgelegten Beweisen Stellung genommen.


In diesem Fall kann ein Gericht des Einsatzstaats das Vorliegen eines Betrugs feststellen und diese Entsendebescheinigung folglich außer Acht lassen.


Den Betroffenen soll aber die Möglichkeit gegeben werden, die Beweise zu entkräften, dass Entsendebescheinigungen betrügerisch erlangt wurden


Allerdings muss den Personen, denen in einem gerichtlichen Verfahren zur Last gelegt wird, entsandte Arbeitnehmer betrügerisch eingesetzt zu haben, das Recht auf ein faires Verfahren gewährt werden. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, die Beweise, auf die sich dieses Verfahren stützt, zu entkräften, bevor das nationale Gericht gegebenenfalls entscheidet, diese Bescheinigungen außer Acht zu lassen, und über die Verantwortlichkeit dieser Personen nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht befindet.


Stellt der Besitz einer Gemeinschaftslizenz eines Mitgliedstaates für Kraftverkehr einen unwiderlegbaren Beweis dafür dar, dass die Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat ihren Sitz hat?


Des Weiteren entschied der EuGH, ob der Besitz einer von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellten Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr einen unwiderlegbaren Beweis dafür darstellt, dass diese Gesellschaft für die Zwecke der Bestimmung der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit gemäß howArt. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 in diesem Mitgliedstaat ihren Sitz hat.


Der Besitz einer Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr ist kein unwiderlegbarer Beweis


Hierzu kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass der Besitz einer Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr durch ein Unternehmen zwar ein Gesichtspunkt sein kann, der bei der Bestimmung der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften zu berücksichtigen ist. Er kann aber weder automatisch den Beweis oder gar den unwiderlegbaren Beweis dafür darstellen noch die Behörden des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit verrichtet wird, binden.


Außerdem führte der EuGH aus, dass der Begriff „Sitz oder Wohnsitz“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 nicht dem Begriff „tatsächliche und dauerhafte Niederlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1071/2009 entspricht.


Der Begriff „Sitz oder Wohnsitz“ bezieht sich auf den satzungsmäßigen Sitz oder die Niederlassung, an dem/der die wesentlichen Entscheidungen des Unternehmens getroffen und die Handlungen zu dessen zentraler Verwaltung vorgenommen werden. Der Begriff „tatsächliche und dauerhafte Niederlassung“ bezieht sich auf den Ort, an dem die wichtigsten Unterlagen des Unternehmens aufbewahrt werden und sich seine Ausstattung sowie seine technischen und verwaltungstechnischen Einrichtungen befinden. Die tatsächliche und dauerhafte Niederlassung und der Ort, an dem ein Unternehmen oder ein Arbeitgeber die wesentlichen Entscheidungen trifft oder die Handlungen der zentralen Verwaltung wahrnimmt, können zwar zusammenfallen, müssen dies aber nicht.


Fazit: Unangenehme finanzielle Risiken, wenn das Gericht Entsendebescheinigungen außer Acht lässt


Aus dem Urteil geht hervor, dass die A1-Bescheinigungen, die von der ausstellenden Behörde vorläufig widerrufen wurden, weiterhin bindend sind. In diesem Fall kann jedoch ein nationales Gericht feststellen, dass diese Entsendebescheinigungen betrügerisch erlangt wurden und sie aus diesem Grund außer Acht lassen. Allerdings muss vorher das Dialog- und Vermittlungsverfahren eingeleitet sein. Des Weiteren stellt der Besitz einer Gemeinschaftslizenz eines Mitgliedstaates für Kraftverkehr keinen unwiderlegbaren Beweis dafür dar, dass die Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat ihren Sitz hat. 


Wenn das Gericht feststellt, dass Entsendebescheinigungen betrügerisch erlangt wurden, kommen auf die Betroffenen unangenehme finanzielle Folgen. Eine Gemeinschaftslizenz eines anderen Mitgliedstaates für Kraftverkehr hilft hier auch nicht. In diesem Fall drohen hohe Nachzahlungen für Sozialabgaben. Um dies zu vermeiden, empfiehlt es sich, anwaltlichen Rat einzuholen.


Zu diesen und anderen Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Zögern Sie nicht und nehmen Sie Kontakt auf. Frau Rechtsanwältin Tsankova-Herrtwich berät Sie bei allen Fragen des Arbeits- und VertragsrechtsDeutsches und Europäisches Sozialversicherungsrecht sowie Europarecht. Ihr Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Gebiet des Fremdpersonaleinsatzes, insbesondere in Form von Arbeitnehmerüberlassung. Wenden Sie sich an unsere Rechtanwältin Tsankova-Herrtwich, wenn Sie sich vor den möglichen Risiken einer nicht rechtskonformen Durchführung Ihrer Tätigkeit absichern wollen. Auch unterstützt Sie Frau Tsankova-Herrtwich im Falle einer verhängten Sanktion durch Behörden (Bußgeldbescheid etc.) und vertritt Sie sowohl gegenüber der Bundesagentur für Arbeit als auch, im Falle eines strafrechtlichen Vorwurfs, gegenüber Zoll oder Staatsanwaltschaft sowie vor Gerichten. Frau Rechtsanwältin Tsankova-Herrtwich berät Sie außerdem in bulgarischer und englischer Sprache. Sie erreichen sie per E-Mail (tseja.tsankova@protag-law.com) und telefonisch unter 06221 338 63 – 0.

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