230223 Folgen des Fehlens von Entsendebescheinigungen beim fliegenden Personal, EuGH Urteil C-33/21

Folgen des Fehlens von Entsendebescheinigungen beim fliegenden Personal, EuGH Urteil C-33/21


Sachverhalt: Welchen Rechtsvorschriften unterliegen Beschäftigten einer irischen Fluggesellschaft, wenn sie in Italien wohnen und über keine Entsendebescheinigungen verfügen?


Im vorliegenden Fall handelt es sich um Rechtsstreitigkeiten zwischen der italienischen Staatlichen Unfallversicherungsanstalt bzw. der italienischen Staatlichen Sozialversicherungsanstalt und der in Irland ansässigen Ryanair DAC. Es geht um deren Weigerung, ihr dem Flughafen Orio al Serio (Bergamo, Italien) zugewiesenes fliegendes Personal bei diesen Versicherungsanstalten zu versichern.

Wird Personal länderübergreifend eingesetzt, kann das geltende Sozialversicherungsrecht durch Entsendebescheinigungen festgestellt werden.

Die Versicherungsanstalten verlangten die Zahlung der entfallenden Sozialabgaben und Unfallversicherungsbeiträge für die dem Flughafen in Bergamo zugewiesenen 219 Beschäftigten. Dagegen ging Ryanair vor den italienischen Gerichten vor.

Das Gericht der ersten Instanz und das Berufungsgericht wiesen die Ansprüche der Sozialversicherung zurück. Hierzu ließen die Gerichte die verspätete Vorlage von E-101-Entsendebescheinigungen durch Ryanair zu. Die Entsendebescheinigungen waren von der zuständigen irischen Stelle ausgestellt worden. Sie bescheinigten, dass auf die darin bezeichneten Beschäftigten die irischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anwendbar seien. 


Die dem Gericht vorgelegten Entsendebescheinigungen erfassten aber nicht alle 219 Beschäftigten. Das Berufungsgericht kam jedoch zu dem Ergebnis, dass auch auf diese anderen Beschäftigten die irischen Rechtsvorschriften anwendbar gewesen seien.

Dagegen legten die Versicherungsanstalten Kassationsbeschwerde ein. Der Kassationsgerichtshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH eine Frage vor.


Entscheidung des EuGH: Für das fliegende Personal einer irischen Fluggesellschaft findet das italienische Recht Anwendung


Im Wesentlichen wollte das vorlegende Gericht wissen, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit auf die nicht von den E-101- Bescheinigungen erfassten, dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair anwendbar sind.


Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sich Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet


Nach Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die zum fliegenden Personal einer Fluggesellschaft, die internationale Flüge durchführt, gehört und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die diese Gesellschaft außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet.

Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass Ryanair während der betreffenden Zeiträume auf dem Flughafen Orio al Serio über einen für die Besatzung bestimmten als „crew room“ bezeichneten Raum verfügte. Dieser diente zur Verwaltung und Organisation der Schichtwechsel für die Dienste ihres Personals. In diesem Raum verbrachten die Beschäftigten täglich 45 Minuten. Dieser Raum war mit Computern, Telefonen, Faxgeräten und Regalen für die Aufbewahrung von Dokumenten zu Personal und Flügen ausgerüstet. Er wurde vom gesamten Personal von Ryanair für die Vor- und Nachbereitungstätigkeiten zu jeder Schicht genutzt (check in und check out zur Zeiterfassung, operative Vorbesprechung und abschließende Nachbesprechung) wie auch für die Kommunikation mit dem Personal am Sitz von Ryanair in Dublin (Irland). Das zeitweilig nicht flugtaugliche Personal hatte seinen Dienst in diesem Raum zu verrichten. Außerdem durfte das Personal von Ryanair nicht mehr als eine Stunde von diesem Raum entfernt wohnen.


Für den Rest der Arbeitszeit befanden sich die Beschäftigten an Bord von Flugzeugen von Ryanair.


„Crew room“ ist eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71


Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass der für die Besatzungen von Ryanair vorgesehene Raum auf dem Flughafen Orio al Serio eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung im Sinne von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt. In dieser war das fliegende Personal während der betreffenden Zeiträume beschäftigt, so dass sie während des Teils dieser Zeiträume, in dem diese Verordnung galt, nach der genannten Bestimmung den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterlagen.


Die Verordnung 1408/71 wurde durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzt, die jedoch auch in der 2009 geänderten Fassungkeine gesonderten Kollisionsnormen vorsah. 


Ausübung des wesentlichen Teils der Tätigkeit im Sinne der Verordnung 883/2004


Nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen unterliegt eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt.


Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden im Fall einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt herangezogen. Wird bei diesen Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird. Dies zu entscheiden ist jedoch die Sache des nationalen Gerichts. 


Wenn das nationale Gericht aber feststellt, dass das fliegende Personal weniger als 25% ihrer Tätigkeit in Italien erbringt, würden die Beschäftigten von Ryanair den irischen Rechtsvorschriften unterliegen, da die Fluggesellschaft ihren Sitz in Irland hat. 


Kollidieren der Verordnung 883/2204 mit der Verordnung 1408/71


Allerdings ist bei einer solchen Fallgestaltung anzumerken, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen vorsieht, dass der betreffende Arbeitnehmer, wenn die Anwendung der Verordnung dazu führt, dass Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anwendbar sind, die nicht denen nach Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechen, weiterhin den Rechtsvorschriften unterliegt, denen er gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 unterlag, es sei denn, er beantragt, die nach der Verordnung Nr. 883/2004 maßgeblichen Rechtsvorschriften auf ihn anzuwenden. Falls solcher Antrag fehlt, unterliegen die Beschäftigten von Ryanair weiterhin den italienischen Rechtsvorschriften.


Anwendung von Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem die Heimatbasis sich befindet


Des Weiteren enthält die Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung in Art. 11 Abs. 5 eine neue Kollisionsnorm. Danach gilt eine Tätigkeit, die ein Flug- oder Kabinenbesatzungsmitglied in Form von Leistungen im Zusammenhang mit Fluggästen oder Luftfracht ausübt, als in dem Mitgliedstaat ausgeübte Tätigkeit, in dem sich die Heimatbasis im Sinne von Anhang III der Verordnung Nr. 3922/91 befindet.

Als die Heimatbasis wird ein benannter Ort definiert, wo das Besatzungsmitglied normalerweise eine Dienstzeit oder eine Abfolge von Dienstzeiten beginnt und beendet und wo der Luftfahrtunternehmer normalerweise nicht für die Unterbringung des betreffenden Besatzungsmitglieds verantwortlich ist.


Angesichts der Angaben des vorlegenden Gerichts zu dem für die Besatzung von Ryanair vorgesehenen Raum auf dem Flughafen Orio al Serio, insbesondere des Umstands, dass die Beschäftigten dort ihren Arbeitstag begannen und beendeten und auch weniger als eine Stunde von ihm entfernt zu wohnen hatten, stellte der EuGH fest, dass ein solcher Raum als eine „Heimatbasis“ im Sinne von Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung anzusehen ist. Damit unterlagen die Beschäftigten gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung auch den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit.


Fazit: Korrekte Entsendebescheinigungen ersparen die Probleme


Aus dem Urteil wird klar, dass es bei einer Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten sehr viele Modalitäten gibt, welche Rechtsvorschriften auf Beschäftigte anzuwenden sind. Vor allen wird auch ersichtlich, dass unterschiedliche Verordnungen teilweise kollidieren. Im vorliegenden Fall wären auf das fliegende Personal weiterhin irische Rechtsvorschriften anwendbar, wenn die Entsendebescheinigungen korrekt ausgestellt worden wären. Wenn Sie sich absichern wollen, empfiehlt es sich, anwaltlichen Rat einzuholen.


Zu diesen und anderen Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Zögern Sie nicht und nehmen Sie Kontakt auf. Frau Rechtsanwältin Tsankova-Herrtwich berät Sie bei allen Fragen des Arbeits- und VertragsrechtsDeutsches und Europäisches Sozialversicherungsrecht sowie Europarecht. Ihr Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Gebiet des Fremdpersonaleinsatzes, insbesondere in Form von Arbeitnehmerüberlassung. Wenden Sie sich an unsere Rechtanwältin Tsankova-Herrtwich, wenn Sie sich vor den möglichen Risiken einer nicht rechtskonformen Durchführung Ihrer Tätigkeit absichern wollen. Auch unterstützt Sie Frau Tsankova-Herrtwich im Falle einer verhängten Sanktion durch Behörden (Bußgeldbescheid etc.) und vertritt Sie sowohl gegenüber der Bundesagentur für Arbeit als auch, im Falle eines strafrechtlichen Vorwurfs, gegenüber Zoll oder Staatsanwaltschaft sowie vor Gerichten. Frau Rechtsanwältin Tsankova-Herrtwich berät Sie außerdem in bulgarischer und englischer Sprache. Sie erreichen sie per E-Mail (tseja.tsankova@protag-law.com) und telefonisch unter 06221 338 63 – 0.


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