221025 Abweichung vom Grundsatz der Gleichstellung (Equal Pay) versus Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern – Schlussanträge des Generalanwalts Collins vom 14.07.2022 in der Rechtssache C-311/21

Abweichung vom Grundsatz der Gleichstellung (Equal Pay) versus Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern – Schlussanträge des Generalanwalts Collins vom 14.07.2022 in der Rechtssache C-311/21


Sachverhalt: Unter welchen Voraussetzungen kann ein Tarifvertrag vom Grundsatz der Gleichbehandlung (Equal Pay) von Leiharbeitnehmern abweichen? 


Im vorliegenden Fall geht es um die Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung (Equal Pay) von Leiharbeitnehmern mit Stammbeschäftigten nach § 8 AÜG. Eine Leiharbeitnehmerin war von Januar bis April 2017 einem Leiharbeitsunternehmen als Kommissioniererin überlassen.


Nach einem Tarifvertrag für Arbeitnehmer war vergleichbaren eingestellten Arbeitnehmern ein Stundenlohn von 13,64 Euro brutto zu zahlen. Ein Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer, wich jedoch von dem im AÜG geregelten Equal-Pay-Grundsatz, insbesondere in Bezug auf das Arbeitsentgelt, ab. Infolgedessen erhielt die Leiharbeitnehmerin ein Bruttoentgelt von 9,23 Euro pro Stunde.


Daraufhin erhob die Leiharbeitnehmerin beim Arbeitsgericht Klage auf Zahlung von 1.296,72 Euro als Ersatz der Entgeltdifferenz. Nachdem das Arbeitsgericht die Klage abwies und das Landesarbeitsgericht die Berufung zurückwies, legte die Leiharbeitnehmerin Revision beim Bundesarbeitsgericht ein. Das BAG setzte das Verfahren aus und legte einige Fragen dem EuGH vor.


Der EuGH hat in der Sache noch nicht entschieden, es liegen aber die Schlussanträge des Generalanwalts vor, in denen der Generalanwalt seine Empfehlung für die Beantwortung der Vorlagefragen ausspricht. Der EuGH ist hieran nicht gebunden, folgt ihr jedoch in den überwiegenden Fällen. 


Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 sieht ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumen können, Tarifverträge zu schließen, die Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern enthalten, die vom Equal-Pay-Grundsatz abweichen können, sofern diese Tarifverträge den Gesamtschutz dieser Arbeitnehmer achten.


Erste Frage: Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz bei einem angemessenen Ausgleich


Hierzu möchte das Bundesarbeitsgericht mit seiner ersten Frage wissen, wie sich der Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 definiert. Insbesondere möchte es wissen, ob er mehr als das umfasst, was nationales und Unionsrecht als Schutz für Arbeitnehmer im Allgemeinen zwingend vorgeben.


Der Generalanwalt verweist auf einen Bericht der Sachverständigengruppe über die Umsetzung der Richtlinie 2008/104 von August 2011, laut dem sich der Tarifvertrag, wenn die Sozialpartner im Wege eines Tarifvertrags vom Equal-Pay-Grundsatz zulasten von Leiharbeitnehmern abweichen, nicht darauf beschränken kann, niedrigere Entgeltniveaus festzulegen. Er muss zum Ausgleich hierfür andere Bestimmungen enthalten, die für die Leiharbeitnehmer günstig sind. Das Erfordernis der Schaffung eines solchen Ausgleichs dient dazu, den „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ sicherzustellen.


Daraus folgt, dass jede in einem Tarifvertrag enthaltene Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz zulasten der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern durch die Gewährung von Vorteilen in Bezug auf andere wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2008/104 ausgeglichen werden muss.


Ferner müssen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die für Abweichungen vom Equal-Pay-Grundsatz gewährten Ausgleichsvorteile zu diesen in einem angemessenen Verhältnis stehen.


Der Generalanwalt schlägt dem EuGH vor, die erste Frage wie folgt zu beantworten:


Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass die Sozialpartner im Wege eines Tarifvertrags vom Equal-Pay-Grundsatz in Bezug auf das Arbeitsentgelt zulasten von Leiharbeitnehmern abweichen können, sofern solche Tarifverträge hierzu in einem angemessenen Verhältnis stehende Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern gewähren, so dass deren Gesamtschutz geachtet wird.


Zweite Frage: konkreter Vergleich der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen


Mit dem ersten Teil der zweiten Frage möchte das BAG wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern anhand eines Tarifvertrags abstrakt oder aber durch einen konkreten Vergleich der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu beurteilen ist. 


Mit dem zweiten Teil der zweiten Frage möchte das BAG wissen, ob die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit geben können, Tarifverträge in Bezug auf Leiharbeitnehmer abzuschließen, die in einem befristeten Arbeitsvertrag mit einem Leiharbeitsunternehmen stehen.


Der Generalanwalt empfiehlt dem EuGH die zweite Frage wie folgt zu antworten:


Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass


– die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern durch einen Vergleich der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern mit den für vergleichbare, unmittelbar vom entleihenden Unternehmen eingestellte Arbeitnehmer geltenden Bedingungen zu beurteilen ist;


– die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit zum Abschluss von vom Equal-Pay-Grundsatz abweichenden Tarifverträgen in Bezug auf Leiharbeitnehmer geben können, die in einem befristeten Arbeitsvertrag mit einem Leiharbeitsunternehmen stehen.


Die dritte und die vierte Frage: Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern setzt keine detaillierten Kriterien oder Bedingungen in den nationalen Rechtsvorschriften voraus


Die dritte und die vierte Frage betreffen beide die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Anforderungen von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 in innerstaatliches Recht umzusetzen. Das Bundesarbeitsgericht möchte wissen, ob die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern voraussetzt, dass für die abgeschlossenen Tarifverträge durch die nationalen Rechtsvorschriften detaillierte Kriterien oder Bedingungen festgelegt werden. Falls diese Frage bejaht wird, ersucht das Bundesarbeitsgericht um Hinweise, anhand deren es beurteilen kann, ob das AÜG den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern hinreichend sicherstellt.


Der Generalanwalt ist der Ansicht, dass dann, wenn ein Mitgliedstaat den Sozialpartnern die Möglichkeit zum Abschluss von Tarifverträgen gibt, die nationalen Rechtsvorschriften keine detaillierten, von den Sozialpartnern zu erfüllenden Bedingungen und Kriterien vorgeben müssen, sofern die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern sichergestellt ist. Die Sozialpartner müssen vielmehr darauf achten, dass die Regeln des Unionsrechts erfüllt werden.


Fünfte Frage: Tarifverträge sind durch die nationalen Gerichte gerichtlich überprüfbar


Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob von den Sozialpartnern geschlossene Tarifverträge durch die nationalen Gerichte gerichtlich überprüfbar sind.


Nach der Rechtsprechung des EuGH haben Tarifparteien ein weites Ermessen. Allerdings ist der Generalanwalt der Meinung, dass von den Sozialpartnern geschlossene Tarifverträge durch die nationalen Gerichte gerichtlich daraufhin überprüfbar sind, ob sie den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 achten.


Fazit: Übernimmt der EuGH die Vorschläge des Generalanwalts in puncto Equal Pay?


Jetzt bleibt abzuwarten, ob der EuGH die vorgeschlagenen Antworten des Generalanwalts übernimmt oder doch anders entscheidet. Besonders interessant, ist die Antwort des EuGH, ob für die Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz beispielsweise in Bezug auf das Arbeitsentgelt dem Leiharbeitnehmer ein angemessener Ausgleich gewährleistet werden muss. Leiharbeitsunternehmen werden sich bei einer negativen Entscheidung des EuGH auf Equal-Pay-Klagen von Leiharbeitnehmern einstellen müssen. Diese werden die Differenzvergütungen einklagen. Zudem droht die Nachforderung von Sozialabgaben durch die Deutsche Rentenversicherung. Außerdem stellt die Nichteinhaltung des Equal-Pay-Grundsatzes eine Ordnungswidrigkeit dar, § 16 AÜG. Hierzu werden wir Sie auf dem Laufenden halten.


Zu diesen und anderen Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Zögern Sie nicht und nehmen Sie Kontakt auf. Herr Rechtsanwalt Greulich  hilft Ihnen gerne auch bei allen anderen Fragen rund um die Themen  Fremdpersonaleinsatz, insbesondere Recht der Werkverträge und ZeitarbeitArbeitsrecht Arbeits- und Wirtschaftsstrafrecht, sowie Europarecht. Darüber hinaus berät Sie Herr Greulich bei Fragen des Einsatzes von Selbständigen. Er unterstützt Sie im Falle von Sanktionen durch Behörden (Bußgeldbescheid etc.) und vertritt Sie sowohl gegenüber der Bundesagentur für Arbeit als auch, im Falle eines strafrechtlichen Vorwurfs, gegenüber Zoll oder Staatsanwaltschaft sowie vor Gerichten. Wenden Sie sich an Herrn Rechtsanwalt Greulich, wenn Sie sich vor den möglichen Risiken einer nicht rechtskonformen Durchführung Ihrer Tätigkeit absichern wollen. Sie erreichen ihn per E-Mail (greulich@protag-law.com) und telefonisch unter 06221 338 63 – 0.


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