230223 Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz durch einen Tarifvertrag vs. Gesamtschutz von Leiharbeitern, EuGH Urteil – C-311/21

Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz durch einen Tarifvertrag vs. Gesamtschutz von Leiharbeitern, EuGH Urteil – C-311/21


Sachverhalt: Wann ist eine Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz durch einen Tarifvertrag erlaubt?


Im vorliegenden Fall geht es um die Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung (Equal Pay) durch einen Tarifvertrag. Es handelt sich um den Einsatz einer Leiharbeiterin, die auf Grundlage eines befristeten Arbeitsvertrages bei einem Leiharbeitsunternehmen beschäftigt war und einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin überlassen wurde.


Während die vergleichbaren Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens einen Bruttostundenlohn von 13,63 Euro erhielten, wurde die Leiharbeiterin gemäß dem Tarifvertrag für Leiharbeiter mit einem Bruttostundenlohn von 9,23 Euro vergütet. Dieser Tarifvertrag wich vom Equal-Pay-Grundsatz ab. Er sah für Leiharbeiter ein geringeres Arbeitsentgelt als für Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens vor.

Die Leiharbeiterin erhob deswegen beim Arbeitsgericht Würzburg (Deutschland) Klage auf zusätzliches Arbeitsentgelt in Höhe von 1.296,72 Euro. Dies war der Differenzbetrag, den sie erhalten hätte, wenn sie nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet worden wäre. Sie machte geltend, dass die einschlägigen Bestimmungen des AÜG und des Tarifvertrags für Leiharbeiter nicht mit Art. 5 der Richtlinie 2008/104/EG vereinbar seien.


Nachdem die Klage abgewiesen worden war, legte die Leiharbeiterin Berufung beim Landesarbeitsgericht Nürnberg (Deutschland) ein. Diese wurde zurückgewiesen. Daraufhin hat die Leiharbeiterin Revision beim vorlegenden Gericht, dem BAG, eingelegt.


Nach Ansicht des BAG hängt der Ausgang der Revision von der Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2008/104/EG ab. Aus diesem Grund setzte es das Verfahren aus und legte dem EuGH einige Fragen zur Auslegung vor.


Entscheidung des EuGH: Die Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz muss durch andere Vorteile ausgeglichen werden 


Im Wesentlichen befasste sich der EuGH in seinem Urteil mit dem Equal-Pay-Grundsatz aus Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG insbesondere mit dem Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitern“. 


Der EuGH hält zunächst fest, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, den Sozialpartnern zu gestatten, Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen. Diese Tarifverträge können Abweichungen vom Equal-Pay-Grundsatz zulassen. Dem steht nach der Richtlinie die Pflicht gegenüber, für die Leiharbeiter einen „Gesamtschutz“ zu achten, ohne dass dieser Begriff in der Richtlinie jedoch inhaltlich definiert würde. 

Ausgleich der Ungleichbehandlung durch Gewährung von Vorteilen

Nach Ansicht des EuGH ist der „Gesamtschutz“ von Leiharbeitern im Falle einer Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz durch einen Tarifvertrag nur dann gewährleistet, wenn ihnen im Gegenzug Vorteile gewährt werden, die die Auswirkungen dieser Abweichung ausgleichen sollen.


Die Vorteile zum Ausgleich der Auswirkungen einer Ungleichbehandlung zum Nachteil der Leiharbeiter müssen sich auf die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2008/104 definierten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen beziehen. Dies sind die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt. Soweit Leiharbeiter unbefristet beschäftigt sind, lässt sich nach dem EuGH nicht ausschließen, dass die Entgeltfortzahlung in der Zeit zwischen den Überlassungen bei der Beurteilung dieses Gesamtschutzes berücksichtigt werden kann. Für befristet beschäftigte Leiharbeiter gilt dies hingegen nicht. 


Daraus folgt, dass, wenn die Sozialpartner durch einen Tarifvertrag Abweichungen vom Equal-Pay-Grundsatz zum Nachteil von Leiharbeitern zulassen, dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeiter zu achten, ihnen die Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren muss, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen.


Equal-Pay-Grundsatz verlangt Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitern

Der EuGH stellte fest, dass Leiharbeiter grundsätzlich nicht schlechter gestellt werden dürfen als vergleichbare Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens. Aus diesem Grund ist im Falle einer Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz durch einen Tarifvertrag konkret zu prüfen, ob dieser Tarifvertrag tatsächlich den Gesamtschutz von Leiharbeitern achtet. Hierzu muss er ihnen bestimmte Vorteile einräumen, die die Auswirkungen dieser Ungleichbehandlung ausgleichen sollen. Bei dieser Prüfung handelt es sich um einen konkreten Vergleich der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeiter zu denen vergleichbarer Arbeitnehmer. Dann ist zu beurteilen, ob die gewährten Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen.


Ferner verlangt die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitern jedoch nicht, dass Leiharbeiter durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag an das Leiharbeitsunternehmen gebunden sind. 


Sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Sozialpartner, die befugt sind Tarifvertrage zu schließen, sind verpflichtet, den Gesamtschutz von Leiharbeitern zu achten.

Gerichtliche Kontrolle der Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitern

Schließlich stellte der EuGH fest, dass die Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, dafür sorgen müssen, dass Tarifverträge, die Abweichungen vom Equal-Pay-Grundsatz zulassen, insbesondere den Gesamtschutz von Leiharbeitern achten. Daher müssen Tarifverträge einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Die Gerichte müssen überprüfen, ob die Sozialpartner ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes dieser Arbeitnehmer nachkommen.


Fazit: Keine Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz ohne Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitern


Aus dem Urteil des EuGH wird ersichtlich, dass Leiharbeiter grundsätzlich gleichgestellt werden müssen wie vergleichbare Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens. Die Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz durch einen Tarifvertrag ist zwar erlaubt. Diese Ungleichbehandlung muss aber durch die Gewährung von anderen Vorteilen ausgeglichen werden. Solche Vorteile müssen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, wie die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt betreffen. Wenn also ein Leiharbeiter ein geringeres Arbeitsentgelt erhält, muss er beispielsweise zusätzliche Urlaubstage erhalten, damit die Ungleichbehandlung in Bezug auf einen vergleichbaren Arbeitnehmer ausgeglichen wird.

Es bleibt nun abzuwarten, wie das BAG entscheidet. Da die klagende Leiharbeiterin nur befristet angestellt war, steht zu befürchten, dass das BAG die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitern durch den Tarifvertrag nicht anerkennt. Allerdings stellt sich auf der anderen Seite die Frage, ob dies für unbefristete Arbeitsverträge auch so gilt. Hier hat der EuGH die Bezahlung für verleihfreie Zeit als berücksichtigungsfähigen Vorteil angesehen. Des Weiteren wird sich für betroffene Unternehmen die Frage stellen, inwieweit hier erhebliche Nachforderungen seitens der Sozialversicherung erhoben werden können. Sofern diese zu befürchten sind, sollten betroffene Verleiher bereits frühzeitig agieren. 


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